Sport: „Wer es in den Beinen hat, hat es auch im Kopf“

Interview mit Dr. med. Dirk Lümkemann zur Wirkung von körperlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit Sportmuffel finden zahlreiche Ausreden, um sich vor einem regelmäßiges Training zu drücken: Ein anspruchsvoller Beruf, der Kraft kostet, eine Familie, die Zuwendung einfordert, Freundschaften, die gepflegt, Bücher, die gelesen, Theater, die besucht werden wollen. Eine neue Studie von Prof. Dr. Russell Clayton von der Saint Leo University in Florida zeigt jedoch einmal mehr: Menschen, die strukturiert und zielgerichtet trainieren, sind nicht nur körperlich gesünder, psychisch ausgeglichener und geistig fitter. Sie können auch – und dies verwundert vielleicht viele – trotz des zusätzlichen Aufwands für den Sport Arbeit und Familie wesentlich besser managen als ihre sportlich abstinenten Kollegen [1].

 

Warum Sport für Körper, Geist und Psyche so wichtig ist und dass es dabei mit einem Spaziergang nicht getan ist, erläutert Dr. med. Dirk Lümkemann im Gespräch mit Medscape Deutschland.

 

Medscape Deutschland: Viele Menschen fühlen sich überfordert, den täglichen Spagat zwischen Beruf und Familie zu meistern. Ist Sport wirklich ein Patentrezept gegen den Dauerstress?

 

Dr. Lümkemann: Stress gehört zu unserem Leben und ist für die Gehirnentwicklung wichtig. Stress ist dann kontraproduktiv, wenn er zum Dauerzustand wird und es zwischendurch keine Erholungsphasen mehr gibt. Körperliche Aktivität trägt dazu bei, dass die Stressaktivität reduziert wird. Menschen, die körperlich fit sind, halten auch mehr Stress aus und kommen nach Stresssituationen wieder schneller auf Normalniveau als andere. Das heißt, sie kommen nicht so schnell in einen Dauerstress.

 

Medscape Deutschland: Hilft Sport auch bei akuten Stresssituationen?

 

Dr. Lümkemann: In Studien konnte man nachweisen, dass Personen, die vor einer belastenden Situation wie einer Prüfung oder einer Präsentation Sport getrieben haben, geringere Stressreaktionen zeigen. Wenn ich also nachmittags einen unangenehmen Termin habe, kann ich die Mittagspause nutzen, um körperlich aktiv zu sein. Durch das wohlige, entspannte Gefühl, das sich nach einem Training einstellt, bin ich dann wesentlich ruhiger und nehme den Stress gar nicht mehr so wahr.

 

Medscape Deutschland: Und bin trotzdem geistig fit?

 

Dr. Lümkemann: Ja, und zwar gerade deshalb. Viele Menschen sind in Stresssituationen eher blockiert und gar nicht mehr in der Lage, adäquat zu reagieren. Kreativität, Schlagfertigkeit etc. brauchen eine gelassene Anspannung und die gewinne ich durch Bewegung.

 

Medscape Deutschland: Regelmäßiges Training kostet Zeit. Geht diese Zeit dann nicht der Familie verloren?

 

Dr. Lümkemann: Ganz im Gegenteil. Wer nach einem anstrengenden Arbeitstag noch trainiert, kommt nicht so müde nach Hause und fällt erst mal auf der Couch ins „Koma“. Er oder sie ist immer noch aktiv und bereit, sich in die Familie einzubringen. Das ist ein Phänomen, das wir immer wieder beobachten. Und wer regelmäßig Sport treibt, ist auch morgens nicht müde und schläfrig, sondern sofort hellwach.

 

Medscape Deutschland: Warum können Trainierte besser entspannen, was passiert dabei im Körper?

 

Dr. Lümkemann: Nach einem turbulenten Arbeitstag steht man am Abend oft noch unter Hochspannung: Die Muskeln sind angespannt, Gedanken schwirren durch den Kopf, es zirkulieren jede Menge Stresshormone durch den Körper. Sport und Bewegung hilft, diese Hormone abzubauen. Aktive Menschen werden stressresistent und stecken durch das Training Belastungen viel besser weg. Ein Wettkampfsportler kann sich schneller regenerieren als ein Untrainierter.

 

Medscape Deutschland: Wenn man an einem schönen Wochenende im Park läuft, begegnen einem so viele Jogger, dass man das Gefühl hat, die ganze Stadt ist auf den Beinen. Leiden wir nicht schon an einem Fitnesswahn?

 

Dr. Lümkemann: Nein, ganz und gar nicht. Wir leiden an einem Schonungswahn. Körperlich ausreichend aktiv sind gerade mal 20 Prozent der Deutschen. Die restlichen 80 Prozent gehen mit ihrem Köper unachtsam um. Sie bewegen sich zu wenig oder zu leicht. Unser Organismus und Bewegungsapparat ist auf Aktivität angelegt. Der Mensch hat als Gattung überlebt, weil er fähig war, ein Wildschwein über 20 km zu hetzen, zu töten und dann wieder 20 km zurück in die Höhle zu schleppen. Die Muskeln erhalten ihre Kraft und Elastizität nur, wenn sie regelmäßig beansprucht werden.

 

So angenehm es ist, auf dem Sofa zu sitzen: Wird die Unterforderung chronisch, kommt es zu gesundheitlichen Problemen. Die sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Bluthochdruck, Diabetes etc. sind im Grunde Bewegungsmangelkrankheiten. Ausreichende Bewegung ist medizinisch notwendig! Doch nur jeder Fünfte schafft es, die minimalen Anforderungen an körperliche Aktivität und Gesundheit zu erfüllen.

 

Medscape Deutschland: Wie sehen die minimalen Anforderungen aus?

 

Dr. Lümkemann: Nach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation sollte man 150 Minuten in der Woche moderat oder 75 Minuten intensiv körperlich aktiv sein. Moderat sind beispielsweise etwas anstrengende Aktivitäten, bei denen man einen Laktatwert um 3 mmol/l erreicht. Intensives Training beginnt ab einem Laktatwert von 4 mmol/l. Alles, was sich unter 2 mmol/l bewegt, ist Ponyhof. Spazierengehen, die Natur genießen, soziale Kontakte pflegen, mit dem Hund Gassi gehen, wirkt entspannend und ist gesund. Doch auf den Risikofaktor „mangelnde körperliche Anstrengung“ hat das alles keinen Effekt.

 

Medscape Deutschland: Wie können Ärzte die Menschen zu mehr Sport anregen?

 

Dr. Lümkemann: Sie müssten erst einmal bei sich selbst anfangen. Doch der Gesundheitszustand der deutschen Ärzteschaft ist lediglich durchschnittlich. Für ihre eigene Gesunderhaltung tun auch Ärzte zu wenig.

 

Medscape Deutschland: Und nehmen deshalb das Thema Prävention auch bei ihren Patienten nicht so wichtig?

 

Dr. Lümkemann: Ärzte arbeiten auch heute noch viel mit Furchtappellen wie in den 50er Jahren, weil sie zu wenig über Verhaltensmodifikation wissen. Oder sie sprechen irgendwelche Empfehlungen aus und das war’s dann. Weitgehend wirkungslos und theoriefrei agieren Check-up-Kliniken, die vorgeben, Prävention zu betreiben. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin warnt vor dieser oft schädlichen Untersuchungsmedizin, die weniger dem Patienten, sondern mehr dem Geldbeutel der Klinik nutzt.

 

Medscape Deutschland: Sport birgt aber auch Verletzungsgefahren: Michael Schumacher liegt noch im Koma, unsere Bundeskanzlerin zurzeit vorwiegend auf dem Sofa.

 

Dr. Lümkemann: Sicher wird es beim Sport immer wieder Unfälle geben. Aber regelmäßiges Training reduziert die Gefahr, sich zu verletzen. Viele amerikanischen Studien haben nachgewiesen, dass sportliche Menschen einen geringeren Krankenstand haben, als ihre unsportlichen Kollegen: Je fitter jemand ist, umso weniger Fehltage hat er. Jene, die körperlich untrainiert sind, verursachen einen hohen Produktivitätsverlust. Unternehmen, die darauf achten würden, die Fitness ihrer Mitarbeiter zu verbessern, könnten ein erhebliches Produktivitätspotential erschließen.

 

Medscape Deutschland: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Quelle:

(1)    Clayton R: How Regular Exercises Helps You Balance Work and Family. Harvard Business Review (online) 3. Januar 2014

Gesundheitsverhalten, kognitive Leistungsfähigkeit, körperliche Aktivität, Prävention, Produktivitätssteigerung
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