Die Medien berichten seit Monaten von Zahlen, die eine angeblich dramatische Entwicklung der psychischen Gesundheit in Deutschland erkennen ließen. Ein Anstieg psychischer Erkrankungen sei dabei ein alarmierender Hinweis auf die sich verändernde Arbeitswelt sowie deren gravierenden Einfluss auf die psychische Gesundheit deutscher Arbeitnehmer. Gesetzliche Verordnungen zur Gewährleistung der psychischen Gesundheit in Unternehmen werden daher von Politik und Gewerkschaften gefordert. Der Deutsche Gesundheitssurvey (DEGS) des Robert-Koch-Instituts hat in dem Modul „Psychische Gesundheit“ Prävalenzen psychischer Erkrankungen und deren Entwicklung untersucht und kommt allerdings zu einem ganz anderen Ergebnis.
Psychische Leiden nicht häufiger als früher
Hans-Ulrich Wittchen und Frank Jacobi, Professoren am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden und Leiter der DEGS-Erhebung, versichern, dass die deutsche Bevölkerung in den letzten zehn Jahren nicht „psychisch kränker“ geworden sei. Lediglich sei eine Verlagerung der Störungen zu beobachten, nicht aber eine Erkrankungszunahme. Die Gesamtprävalenz von einem Drittel liege sogar unter der in der Europäischen Union mit 38,2 Prozent (1,2,3). Auch die psychischen Anforderungen und Belastungen, zu denen gesundheitsrelevante Faktoren wie Zeitdruck und Störungen bei der Arbeit zählen, sind seit 2005/2006 im Großen und Ganzen stabil geblieben (4). Gesundheitsgefährdende Faktoren wie Arbeitsplatzunsicherheit und prekäre Arbeitsverhältnisse haben sogar abgenommen. Dennoch werden steigende Zahlen psychisch bedingter Krankmeldungen häufig auf die Arbeitsbedingungen zurückgeführt.
Mehr Bewusstsein und Sensibilität Grund für steigende Krankmeldung
Grund für die gestiegenen Zahlen sei laut Herbert Rebscher, Vorsitzender der DAK-Gesundheit, nicht ein Anstieg an Erkrankungen, sondern vielmehr ein verändertes Bewusstsein und eine stärkere Sensibilität von Ärzten und Patienten in Bezug auf psychische Erkrankungen (1). Dies zeigte eine Studie mit 3.090 Erwerbstätigen und Gruppendiskussionen mit Hausärzten (5).
Wolfgang Schneider, Direktor der Rostocker Universitätsklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, betrachtet diese Entwicklung jedoch mit großer Skepsis. Aus seiner Sicht würden derzeit viele Menschen dazu neigen, sich schnell als psychisch belastet zu sehen und dem medialen Hype rund um das Thema Burnout zu folgen, um die überfordernde Arbeitswelt als Grund für ihr psychisches Leiden zu erklären. Laut Schneider gehöre allerdings ein gewisses Maß an Müdigkeit, Erschöpfung, Demotivation oder Schlafstörungen bei beruflichen oder privaten Problemen dazu. Demzufolge hält er es für nicht ratsam, alles zu pathologisieren. Die häufig sozialen Probleme würden dabei zu medizinischen gemacht und den Betroffenen nur wenig nützen. Im Gegenteil. Eine Diagnose und Medikamente würden die Probleme meist erst richtig anschieben (6).
Ursachen für psychische Erkrankungen vielschichtig
Die Ursachen für psychische Erkrankungen sind vielschichtig und liegen sogar häufig weit in der Vergangenheit. Neuere Studien, darunter auch neurobiologische Studien, zeigen, dass die Fähigkeit mit Stress erfolgreich umzugehen, bereits in der Kindheit gelernt und in dieser Zeit grundlegend beeinflusst wird. Wichtig seien hier vor allem feste Bezugspersonen, die Sicherheit vermitteln und somit für eine größere psychische Stabilität sowie für einen gesundheitserhaltenden Umgang mit Stress im Erwachsenenalter sorgen (7,8,9). Monokausale Schlussfolgerungen, die die Arbeitsbedingungen als alleinige Ursache für psychische Störungen begreifen, sind auch aus diesem Grunde ohnehin schon nicht zulässig.
Nicht zielführend sei daher laut Dr. Stephan Sandrock, Arbeitspsychologe am Institut für angewandte Arbeitswissenschaft, insofern der Entwurf der Anti-Stress-Verordnung, welche den Arbeitsschutz um den Schutz der psychischen Gesundheit ergänzen soll. Die momentane „mediale Hetze“ müsse richtigerweise einer objektiven und versachlichten Diskussion weichen. Wichtige Facetten des Themas wie die Sensibilisierung und Eigenverantwortung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten dabei angesprochen werden (10). Diese Ansicht teilt auch Arbeitgeberpräsident Dr. Dieter Hundt. Die Ursachen psychischer Erkrankungen auf die Arbeitsbedingungen zu reduzieren und vereinfachte Lösungsansätze für diesen „komplizierten und vielschichten Bereich“ anzubringen, würde unter dem Strich keinem psychisch Erkrankten helfen. Letzlich müsse jeder Einzelne seinen Beitrag dafür leisten, die eigene psychische Gesundheit zu erhalten (11). Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und Unterstützung bei der Umsetzung zu leisten, ist deswegen wichtigste Aufgabe der Unternehmen im Rahmen eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements.
Quellen:
(1) Depression verursacht achtmal mehr Fehltage als Burnout. Deutsches Ärzteblatt, 26. Februar 2013.
(2) Jachertz, N. (2013). Psychische Erkrankungen: Hohes Aufkommen, niedrige Behandlungsrate. Deutsches Ärzteblatt, 110(7).
(3) Wittchen, H. U. & Jacobi, F. (2012). Was sind die häufigsten psychischen Störungen in Deutschland? DEGS-Symposium.
(4) Lohmann-Haislah, A. (2012). Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dortmund/Berlin/Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
(5) DAK-Forschung (2013). DAK-Gesundheitsreport 2013. Hamburg
(6) Psychiater: Menschliche Gefühle nicht zu Krankheiten machen. Deutsches Ärzteblatt, 29.04.2013.
(7) Dedovic, K., Duchesne, A., Andrews, J., Engert, V. & Pruessner, J. C (2009). The brain and the stress axis: the neural correlates of cortisol regulation in response to stress. Neuroimage, 47(3), 864-71.
(8) Kiecolt-Glaser, J. K., Gouin, J. P., Weng, N. P., Malarkey, W. B., Beversdorf, D. Q. & Glaser, R. (2011). Childhood Adversity Heightens the Impact of Later-Life Caregiving Stress on Telomere Length and Inflammation. Psychosomatic Medicine, 73(1), 16-22.
(9) Tomiyama, A. J., O’Donovan, A., Lin, J., Puterman, E., Lazaro, A., Chan, J., Dhabhar, F. S., Wolkowitz, O., Kirschbaum, C., Blackburn, E. & Epel, E. (2012). Does cellular aging relate to patterns of allostasis? An examination of basal and stress reactive HPA axis activity and telomere length. Physiol Behav, 106(1), 40-5.
(10) Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (2012). Anti-Stress-Verordnung praxisfern und nicht zielorientiert. Pressemitteilung am 27.06.2012.
(11) Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Die Perspektive der Arbeitgeber. Rede vom Arbeitgeberpräsidenten Dr. Dieter Hundt auf der Tagung „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ Berlin, 29. Januar 2013.